Geschichte kennen wir alle als Schulfach. Viele SchülerInnen fragen sich allerdings, warum wir überhaupt historische Schlachten und Namen von Königshäusern auswendig lernen sollten, und vielleicht haben sie Recht. Es geht auch nicht um das Rezitieren eines Datums, sondern vielmehr um das Erkennen von Zusammenhängen und die daraus zu erwartenden Folgen. Bestes aktuelles Beispiel ist die Türkei. Wo hat man das schon mal gesehen, was sich jetzt auf unseren Fernsehbildschirmen bietet?
Rote Fahnen mit einem Symbol darauf, die von allen Fenstern hängen
Massendemonstrationen des Volkes, die alle begeistert ihrem Anführer zujubeln
Massenfestnahmen von Systemgegnern
Presse-Gleichschaltung
Angriffe auf Andersdenkende
Angst, in der Öffentlichkeit die politische Meinung zu äußern
Diese Bilder und Berichte bringen alle Alarmglocken zum Sturmgeläut, und das sollten sie auch. Denn im Geschichtsunterricht haben wir gelernt, was die Konsequenzen solcher Anfänge sind: Diktatur, Verfolgung und sogar Völkermord. Allein schon deshalb wird seit 1945 nicht nur in England der Nationalsozialismus ausführlich in den Schulen durchgenommen, und es kommt auch noch heute allwöchentlich etwas zum Thema im englischen Fernsehen. Als Deutsche im Ausland hatte ich stets ein Problem damit, denn wir haben ja wesentlich mehr Geschichte aufzubieten als die schreckliche sogenannte jüngste Vergangenheit. Auf der anderen Seite liegt der Grund dafür eindeutig darin, dass in diesem Beispiel die Entstehung und der Verlauf einer Diktatur so detailliert dokumentiert werden. Wie sonst könnten wir davor warnen, dass sich ein solcher Horror wiederholt?
Die Lehrpläne in Deutschlands Schulen haben offenbar einen Kompromiss gefunden, der die Wichtigkeit der Geschichte und den Widerstand gegen stures Auswendiglernen auf einen Nenner bringt: das Fach Geschichte wird mit Geografie und Politik gemischt und heißt ‚Gesellschaftswissenschaften“. Das ist eigentlich richtig. Schließlich kommt es immer weniger darauf an, Fakten im Kopf zu haben, sondern eher darauf, zu wissen, wo wir Fakten finden und wie wir sicherstellen, dass sie auch stimmen. Und darauf, dass wir Zusammenhänge erkennen und daraus Folgen abschätzen können.
Die neue Herangehensweise ist offenbar umstritten, besonders bei den Lehrkräften, was ich als Lehrerin verstehen kann. Über Jahre haben sie nicht nur Erfahrungen gesammelt, wie man das Wissen am besten vermittelt, sondern auch eine riesige Bank von Unterrichtsmaterialien zusammengestellt, die nun zum großen Teil nutzlos sind. Allerdings macht die neue Herangehensweise wirklich Sinn: man kann unter dem Stichwort ‚Migration‘ die Ursachen und Auswirkungen der Völkerwanderung, der Römerzeit, der Kreuzfahrten, der Kolonialpolitik vergleichen. Unter dem Stichwort ‚Geschlechterrollen‘ kann man sehen, wie die Rechte von Frauen über Jahrtausende die Gesellschaftsstrukturen verändert haben.
Die Französische Revolution, die Märzrevolution in Deutschland, die Russische Revolution – da gibt es faszinierende Parallelen. Stalin, Mussolini, Hitler, Kim Jong-un – wie haben sie es geschafft, Diktatoren zu werden? Ist es nicht viel wichtiger, Machthunger und fanatische Ideologien zu hinterfragen bzw. erst einmal als solche zu erkennen (!), als genaue Daten auswendig zu lernen? Zu verstehen, wann und wie man manipuliert wird? Demokratie von Autokratie unterscheiden zu können?
Wer das lernt, hat zumindest die Voraussetzung zu einem freien Leben: Menschenrechts-Verletzungen werden früh genug erkannt, um entsprechende Entscheidungen zu treffen. Malala hat es gut ausgedrückt: “One book, one pen, one child, and one teacher can change the world”.